Was ist Achtsamkeit?

Jeder Mensch hat die Fähigkeit achtsam zu sein und Momente ungeteilter Aufmerksamkeit zu erleben. Wie ausgeprägt und dauerhaft dieses bewusste Wahrnehmen unserer Sinneseindrücke oder unseres Denkens, Fühlens und Handelns ist, hängt ohne Übung zunächst von der persönlichen Prägung des Einzelnen ab. Aber jeder kann durch regelmäßiges Üben dieses uns allen innewohnende Talent weiterentwickeln. Man kann das direkt mit dem Erlernen anderer Fähigkeiten vergleichen, wie etwa dem Spielen eines Musikinstruments. Thich Nhat Hanh sagt: „Wer drei Schritte bewusst gehen kann, der kann auch vier oder fünf oder gar sechs Schritte bewusst gehen“. Die gleiche Aussage gilt für das bewusste Wahrnehmen unseres Atmens bei der Meditation. Wenn ich drei bewusste Atemzüge machen kann, so kann ich mit entsprechender Übung immer mehr Atemzüge bewusst wahrnehmen, bevor ich mich durch meine Gedanken für kürzere oder längere Zeit davon tragen lasse. Mit der Übung wird dieses Abschweifen seltener und kürzer. Regelmäßiges Meditieren oder regelmäßiges Üben von Achtsamkeit stellt im Grunde genommen eine „Geistesschulung“ oder mentales Training dar.

Achtsamkeit und Meditation zu üben bedeutet immer und immer wieder zu versuchen, im Hier und Jetzt zu sein, zu versuchen in Balance zu bleiben oder zur inneren Balance zurückzufinden. Mit zunehmender Balance und Gelassenheit treten auch „innere Kämpfe“ in den Hintergrund, bei denen wir z.B. verzweifelt sind oder uns antreiben. Achtsamkeit üben heisst auch zu versuchen, den jetzigen Augenblick und das ganze damit verbundene Erleben in einer möglichst nicht wertenden, wohlwollenden und offenen Haltung anzunehmen.

Einige Schüler fragen ihren Zen-Meister
warum er so zufrieden und glücklich ist:

Der Zen-Meister antwortet:
“Wenn ich stehe, dann stehe ich, wenn ich
gehe, dann gehe ich, wenn ich sitze, dann
sitze ich, wenn ich esse, dann esse ich,
wenn ich liebe, dann liebe ich …”

“Das tun wir auch, antworteten seine
Schüler, aber was machst Du darüber
hinaus?” fragten Sie erneut.
Der Meister erwiderte:
“Wenn ich stehe, dann stehe ich, wenn ich
gehe, dann gehe ich, wenn ich … ”

Wieder sagten seine Schüler:
“Aber das tun wir doch auch Meister!”
Er aber sagte zu seinen Schülern:
“Nein – wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon,
wenn ihr steht, dann lauft ihr schon, wenn
ihr lauft, dann seid ihr schon am Ziel.”

Diese Haltung stellt einen Akt von Liebe dar und ermöglicht mit der Zeit ein tieferes Verständnis für uns selbst und anderen Menschen. Es hilft uns auch, unsere meist automatisch ablaufenden Denkmuster leichter zu erkennen und zu verstehen. Man kann in diesem Zusammenhang von einem “Autopilotmodus” reden, in dem wir uns oft befinden. Insbesondere in Stresssituationen verfallen wir in solche „Autopilotmodi“. Die Meditations- und Achtsamkeitsübungen helfen uns, die verschiedenen Programme unseres Autopiloten besser kennen zu lernen und erhöhen damit die Chance, früher und geeigneter gegen zu steuern.

Gerade zu Beginn der Achtsamkeitspraxis ist es wichtig, dass man sich einfache Tätigkeiten aussucht, welche man versucht, über einen gewissen Zeitraum bewusst durchzu-führen, um so seine natürlich vorhandene Achtsamkeit langsam zu vertiefen. Das kann z.B. der Weg zur Bushaltestelle, das Treppensteigen, das Abwaschen von Geschirr, das An- oder Auskleiden, das Zähneputzen oder das Warten an der Supermarktkasse sein. Es ist sinnvoll, sich zunächst Lebensbereiche auszusuchen, die nicht nur einfach sind, sondern bei denen das Üben auch Freude macht, damit sich ein gewisses Erfolgserlebnis einstellt und man motiviert ist, sein persönliches Übungsfeld langsam zu erweitern.

Durch die systematische
Schulung der Achtsamkeit,
die wir während der Meditation
und ähnlichen Übungen
trainieren, gelingt es uns
immer besser, auch im
Stress achtsam zu bleiben.

So können wir entscheiden,
wie wir in schwierigen
Situationen reagieren
wollen und verfallen
weniger in automatische
Reaktionsweisen.

(Jon Kabat-Zinn)

Bei der in unserer Gruppe ausgeübten Meditationsform lenken wir meist unsere Aufmerksamkeit auf unseren Atem. Wer diese Form der Meditation über längere Zeit übt, der vertieft im Laufe der Zeit nicht nur die Wahrnehmung des Atems sondern des ganzen Körpers. Während der Meditation sind wir über den Atem auch mehr in unserem Körper zu Hause und bei voller Präsenz auch im Hier und Jetzt. Wir befinden uns im Idealfall nur im Sein, und das Tun tritt völlig in den Hintergrund. Diese Freude, einfach nur da zu sein, haben viele Erwachsene in unserer vom Tun und Handeln bestimmten Welt verlernt.

Wenn wir als Baby satt, trocken und umsorgt waren, haben wir uns oft über unser bloßes Dasein gefreut und dies durch unser Lächeln und Strahlen zum Ausdruck gebracht. In der Meditation oder in Momenten der Achtsamkeit im Alltag haben wir die Möglichkeit, zu diesem „Baby-Modus“ des Seins zurückzufinden. Es lohnt sich zu lernen, die Meditation in ihrer ganzen Länge zu genießen und uns immer wieder daran zu erinnern, dass eine Meditation genussvoll sein kann – ein Geniessen des Seins, eine Freude über unser Dasein. Hier gilt es, jeden Ehrgeiz unbequeme Sitzhaltungen auszuhalten, hinter sich zu lassen. Meditation kann im Prinzip in jeder Körperhaltung praktiziert werden. Eine aufrechte und entspannte Sitzhaltung auf dem Meditationskissen oder auf einem Stuhl erleichtert jedoch ein klares und konzentriertes Meditieren.

Zu diesen Betrachtungen des Seins passt ein kurzer Abschnitt aus dem Buch „Im Hier und Jetzt zuhause sein“ von Thich Nhat Hanh (S. 22): „In unserem Alltag verlieren wir uns oft in unseren Sorgen, in unserem Denken und wir haben immer zu viele Projekte, um die wir uns kümmern müssen – deswegen ist es wichtig, dass wir lernen achtsam zu sitzen. Achtsam zu sitzen bedeutet, uns selbst wieder zusammenzubringen, bedeutet, ganz präsent zu sein, ganz lebendig im Hier und Jetzt. …….. Diese Qualität des Seins können wir uns selbst anbieten, ebenso der Gemeinschaft, der Sangha, der Welt. Seien Sie da, ganz lebendig, ganz präsent – das ist der Zweck des Sitzens, darüber hinaus brauchen Sie überhaupt nichts zu tun. Die grundlegende Praxis ist, da zu sein und die Freude am Zusammensein zu spüren.“

Wir können die Probleme der
Welt nicht mit den
Denkmustern lösen,
die zu ihnen geführt haben.

(Albert Einstein)


Die Menschen werden nicht
durch die Dinge, die passieren,
beunruhigt, sondern durch ihre
eigenen Gedanken und
Schlussfolgerungen über die Dinge.

(Epiktet)

Alte und neue Wege

Thich Nhat Hanh weist darauf hin, dass einer der Gründe, warum es sich lohnt Achtsamkeit zu praktizieren, der ist, dass wir die meiste Zeit unwissentlich genau das Gegenteil tun, und somit immer „besser“ darin werden, in der uns gewohnten Achtlosigkeit zu denken, zu fühlen und zu handeln. Jedes Mal wenn wir zum Beispiel zornig (oder ängstlich oder unklar) werden, üben wir das Zornigwerden (oder das Ängstlich- oder Unklarwerden) und verstärken die Gewohnheit, auf diese Weise zu reagieren.

Jon Kabat-Zinn betont in diesem Zusammenhang zu Recht, dass bei diesen sich immer wiederholenden Vorgängen unseres Geistes die Übung den Meister macht. Er schreibt hierzu in dem Buch „Zur Besinnung kommen“ (S. 83): „Wenn wir uns des Zorns oder irgendeines anderen Geisteszustandes, der uns, wenn er auftaucht, völlig in Anspruch nehmen kann, nicht bewusst sind, dann verstärken wir jene synaptischen Verbindungen in unserem Gehirn, die unserem konditionierten Verhalten und unbewussten Gewohnheiten zugrunde liegen, und damit wird es zunehmend schwieriger, uns davon zu befreien, selbst wenn wir uns dieser Gewohnheiten bewusst sind“.

Umgekehrt bedeutet das regelmässige Üben von Achtsamkeit – wie bei jeder neuen Fähigkeit oder Tätigkeit die wir erlernen oder vertiefen – die Anlage neuer synaptischer Verbindungen in unserem Gehirn. Man könnte auch sagen, wir legen „neue Wege“ in unserem Gehirn an und beginnen auf sanfte und wohlwollende Weise die alt eingetretenen Wege zu umgehen oder zu ignorieren. Gemäss unserer alten Gewohnheiten werden wir in Phasen der Bewusstheit und Achtsamkeit immer wieder merken, wie wir vor wenigen Momenten auf den alt eingetretenen Pfaden „schlafwandelnd“ unterwegs waren (sozusagen im erwähnten Autopilotmodus). Dieses gewohnte Verhalten gilt es in einem ersten Schritt möglichst wohlwollend und nicht wertend wahrzunehmen – also Inne zu halten – und in einem zweiten Schritt zu versuchen, bewusst den „neuen Weg“ einzuschlagen. Dieses Innehalten kann je nach Übung und je nach Stärke unserer Verhaltensmuster nur wenige Atemzüge dauern oder auch viele Minuten und länger.

Der Mensch ist die Summe
seiner Gedanken, Gefühle
und Handlungen.


Wenn wir wirklich lebendig
sind, ist alles, was wir tun
oder spüren, ein Wunder.
Achtsamkeit zu üben bedeutet,
zum Leben im gegenwärtigen
Augenblick zurückzukehren.

(Thich Nhat Hanh)

Thich Nhat Hanh spricht in diesem Zusammenhang gerne von Gewohnheitsenergien, und diese Gewohnheitsenergien lassen sich mit zunehmender Übung immer mehr abschwächen. Jeder der schon länger übt, merkt, dass er Lebens- Denk- und Fühlbereiche hat, in denen sich diese Gewohnheitsenergien nur sehr langsam abschwächen, während es in anderen Bereichen deutlich leichter geht. In unserem Alltag bedeutet dies auch, dass wir trotz unserer Fortschritte auf unseren verschiedenen Übungswegen täglich viele Male stolpern. Jedes Stolpern sollte uns auf Neue liebevoll ermuntern, wieder einen neuen Anfang zu machen – und immer und immer wieder. Wie im letzten Abschnitt bereits beschrieben, erfolgt dieser immer wieder neue Anfang durch Innehalten, und den darauf folgenden Versuch, in den nächsten Momenten auf den „neuen Wegen“ der Bewusstheit und Achtsamkeit zu gehen.

Auf die Dauer der Zeit nimmt die Seele die Farbe der Gedanken an.
(Marc Aurel)

Ein liebevoller Gedanke hat einen positiven Effekt auf unsere Gesundheit – körperlich wie geistig. Er hat die Kraft zu heilen.

(Thich Nhat Hanh)

Literaturempfehlungen

Die blau hervorgehobenen Buchempfehlungen eignen sich als leichter Einstieg in das Thema Achtsamkeit und Meditation.

Pema Chödrön
"Den Sprung wagen"
"Wenn alles zusammenbricht"

Rick Hanson und Richard Mendius
„Das Gehirn eines Buddha: Die angewandte Neurowissenschaft von Glück,
       Liebe und Weisheit“

Wener Heidenreich
„In Achtsamkeit zueinander finden: Die buddhistische Sprache der Liebe“

Jon Kabat-Zinn
„Im Alltag Ruhe finden: Meditationen für ein gelassenes Leben“
„Gesund durch Meditation“
„Zur Besinnung kommen: Die Weisheit der Sinne -- der Sinn der Achtsamkeit in
       einer aus den Fugen geratenen Welt“

Jack Kornfield und Christina Feldman
„Geschichten des Herzens“

Dukoto Josef Meindl
„Zen – Das Glück im Jetzt“

Abt Muho
„Zazen oder der Weg zum Glueck“

Thich Nhat Hanh
„Im Hier und Jetzt zuhause sein“
„Ich pflanze ein Lächeln“
„Du bist ein Geschenk für die Welt: Achtsam leben jeden Tag - Ein Begleiter für
       alle Wochen des Jahres“
„Sei liebevoll umarmt: Achtsam leben jeden Tag. Ein Begleiter für alle Wochen
       des Jahres“

„Das Herz von Buddhas Lehre: Leiden verwandeln - die Praxis des glücklichen
       Lebens“
„Versöhnung mit dem inneren Kind: Von der heilenden Kraft der Achtsamkeit“
„Ärger: Befreiung aus dem Teufelskreis destruktiver Emotionen“
„Aus Angst wird Mut"

Ulrich Ott
„Meditation für Skeptiker: Ein Neurowissenschaftler erklärt den Weg zum Selbst“

Matthieu Ricard
„Glück“

Wolf Singer und Matthieu Ricard „Hirnforschung und Meditation: Ein Dialog”

Annabelle Zinser
"Herzenswege - Meditation zur Heilung und Transformation"

Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.
(Mahatma Ghandi)

Achtsamkeit heißt, in unserem Leben ganz wach zu sein, jeden Moment in all seiner Lebendigkeit, seiner Wirklichkeit, seinen Freuden und Sorgen so zu erfahren, wie er ist.

(Jon Kabat-Zinn)

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….Bild 1 (Meditationsraum), Bildautor: Gerald Ford, https://www.flickr.com/people/geraldford/, Lizenz CC-BY-SA 2.0,
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….Bild 2 (Lotusblüte); Bildautor:T. Voekler, Lizenz CC-BY-SA-3.0, ,
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….Bild 3 (Buddha), Bildautor: Aaron Logan, Lizenz CC-BY-3.0, ,
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lightmatter_buddha3.jpg,
Das Bilddokument ist unverändert wiedergegeben. ,

….Bild 4 (Thich Nhat Hanh), Bildautor: Duc Truong (i.e. pixiduc) Paris, Frankreich ,Lizenz CC-BY-SA-3.0, ,
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Thich_Nhat_Hanh_12.jpg?uselang=de,
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....Bild 5 (Sonnenuntergang), Bildautor: Brocken Inaglory, Lizenz CC-BY-SA-3.0, ,
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sunset_from_Sutro_Bath_in_San_Francisco.jpg ,
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....Bild 6 (Berg Kailash), Bildautor und Urheber: Ondrej Zvacek, Lizenz CC-BY-SA-3.0, ,
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Zusammengestellt und verfasst von Reinhard Mundt, Heidelberg.